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Speculum Humanæ Salvationis – Ein Spiegel des christlichen Lebens |
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1. Teil 2. Teil
3. Teil 4. Teil 5. Teil 6. Teil |
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3. Teil – Verwirrung mit den drei Radskizzen |
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Warum ist im Zusammenhang mit dem farbigen Meditationsbild von Bruder Klaus überhaupt von einem «Rad» die Rede? Für die meisten Besucher des Eremiten war an dem Bild nichts Auffälliges. Bis einer kam, der mit seiner sprühenden Phantasie in der Struktur des Gemäldes ein Gleichnis entdeckte: ein Rad mit einer Nabe in der Mitte, mit einem Reif aussen und dazwischen sechs Speichen. Aus den alten Quellen, d. h. den Texten bis zum Jahre 1500 gibt es nur zwei, die hier von einem «Buch» und zugleich von einem «Rad» sprechen: Die Inkunabel «Brůder Claus» (Varianten aus Augsburg und Nürnberg), der sogenannte «Pilgertraktat», weil der Verfasser nicht bezeichnet wird, sowie die «Historia Nicolai Underwaldensis heremite» (Die Geschichte von Nikolaus, dem Einsiedler in Unterwalden), eine Handschrift auf Pergament, die Heinrich Gundelfingen, datiert mit 13. August 1488 der Stadt Luzern schenkte. Diese Handschrift enthält zudem ein reich ausgeschmücktes Offizium (Texte und Gesänge für eine Messe und das Stundengebet).
Untenstehend werden die beiden Texte synoptisch (in einer Zusammenschau) gegenübergestellt, der Text links (Pilgertraktat) ist in originaler Reihenfolge wiedergegeben, während der Text rechts (Historia Nicolai) thematisch angepasst wurde. – Der ganze Pilgertraktat samt Holzschnitten ist im Quellenwerk zu finden (Quelle 048), ebenso die Historia Nicolai von Heinrich Gundelfingen (Quelle 052).
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Pilgertraktat (PT) · (Quelle 048)
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Historia Nicolai (HN) · (Quelle 052)
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I. Teil, vierte Frage
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1) Und er begann wiederum und sprach zu mir: Wenn es dich nicht verdriesst, so will ich dich auch mein Buch sehen lassen, worin ich lerne und die Kunst dieser Lehre zu verstehen suche. Und er trug etwas herbei, worauf ein Gleichnis dargestellt [verzaichnen = darstellen] war, das der Struktur nach aussah wie ein Rad mit sechs Speichen, in der Art, wie es anschliessend abgebildet wird:
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• Diese sowie andere Geheimnisse und verborgene Bedeutungen des Rades hat unser Einsiedler in seinem Buch, das heisst, in jenem Rad gelehrt.
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2) Und er begann zu reden und sprach zu mir: Siehst du diese Figur? So ist das göttliche Wesen. Die Mitte bedeutet die ungeteilte Gottheit, in der sich alle Heiligen erfreuen. Die drei Spitzen, die in der Mitte, beim inneren Ring, hineingehen, bedeuten die drei Personen. Sie gehen aus von der einen Gottheit ...
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• Und wie die drei Personen in ihrer Macht die Spitzen jener Strahlen aussenden, ...
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3) ... und haben den Himmel und die ganze Welt umfangen in ihrer Kraft.
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• ... die so den Himmel und die Erde umfassen.
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4) Und so, wie sie ausgehen in göttlicher Macht, so gehen sie auch hinein, sie sind einig und ungeteilt in ewiger Herrschaft. Das bedeutet diese Figur.
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• ... so kehren sie in der gleichen Kraft breiter verlaufend zurück in den Spiegel der Gottheit [der Mensch ist das Ebendild Gottes, der «göttliche Spiegel»].
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5) Nun will ich dir auch etwas sagen von der reinen Magd Maria, die eine Königin ist des Himmels und der Erde; sie ist durch göttliche Weisheit im voraus ausersehen worden. Diese [Weisheit] hat sie umgeben, sobald Gott an sie gedacht hat, dass sie empfangen werden sollte. Darum ist sie im Plan Gottes früher empfangen worden als im mütterlichen Leib. Und diese Gnade ist mit grosser Heilskraft in die Empfängnis hineingegangen, darum ist sie rein, zart und unbefleckt. So ist die Kraft des Allerhöchsten ausgegangen und hat sie umfangen, und sie ist liebreich erfüllt worden vom Heiligen Geist. Sodann siehst du im Rad etwas, das in der Mitte beim innern Ring breit ist und nach aussen in eine kleine Spitze verläuft. Nach Bedeutung und Form der Speiche ist nun der grossmächtige Gott, der alle Himmel bedeckt und umfasst, in Gestalt eines kleinen Kindleins von der höchsten Jungfrau, ohne Verletzung ihrer Jungfrauschaft, ein- und ausgegangen. Den gleichen zarten Leib gab er uns zur Speise mitsamt seiner ungeteilten Gottheit. So siehst du diese Speiche, die ebenfalls beim innern Ring breit ist und nach aussen hin, gegen den äussern Ring klein wird, auf diese Weise ist die grosse Kraft Gottes des Allmächtigen in dieser geringen Substanz der Hostie.
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• Er betrachtete in vortrefflicher Weise in zwei Strahlen, die mit der breiteren Seite den göttlichen Spiegel berühren, die Geheimnisse des Sakraments der Eucharistie sowie die Geburt Christi und das Wunder der unbefleckten Jungfrau und Mutter Maria, seiner innigsten Patronin, die vom strahlenden Abbild der Gottheit her durch die Überschattung des Heiligen Geistes empfangen hatte.
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6) Nun beachte ausserdem eine Speiche, die ebenfalls breit ist beim innern Ring und gegen den äussern hin klein, das bedeutet den Wert unseres Lebens, das ganz und gar klein und vergänglich ist. In der kleinen Zeit [unseres Lebens auf Erden] können wir durch die Gottesliebe eine unaussprechliche Freude gewinnen, die nie mehr ein Ende nimmt.
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• ... mit dem dritten Strahl, der mit der breiten Seite den göttlichen Spiegel berührt, wie unser kurzes und vergängliches Leben nach geringer Zeit die grössten, unendlichen, unaussprechlichen Freuden im Himmelreich erlangt.
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7) ...
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• Das zeigen die drei Strahlen an, die mit ihrem breiten Teil das Ebenbild Gottes berühren. Denn unser Verstand sucht auf dem breiteren Weg, d. h. mit Hilfe der sinnlichen Wahrnehmung nach dem Wesen der Gottheit, das einfach und scharf ist. Der äussere Teil der Strahlen aber ist wegen der Menschwerdung und der Erlösung breit und weit.
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8) Das ist die Bedeutung meines Rades. Diese Worte erfreuten mein Herz. Das war also seine Erklärung, die er mir gab.
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• Auf gleiche Weise zeigte unser Eremit ...
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II. Teil
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9) Nun erwog ich in meinem Herzen, wie ich mit meiner Vernunft die grundlegende Bedeutung des Rades finden könnte, das Bruder Klaus mir gezeigt hatte. Ich bat Gott, dass er mir die Gnade gebe, wodurch sein Name geheiligt werde. Siehe, während ich nachdachte, da fertigte ich eine Nachbildung von diesem Rad an und fügte jeder Speiche des Rades ein Gleichnis bei, damit ich alles gut verstehen konnte.
[Der Pilger versucht das früher gesehene Bild in Gedanken zu rekonstruieren und zu interpretieren.]
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• Durch das Wahrnehmen der spürbaren, bei uns erzielten Wirkungen und durch eifriges Nachdenken können wir zur Erkenntnis der unfassbaren Gottheit gelangen.
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10) So sollt ihr aufmerksam den inneren Ring des genannten Rades betrachten, wie es mich der liebe Vater, Bruder Klaus, gelehrt hat, in der Bedeutung des klaren Spiegels des wahren lebendigen Gottes. In diesem ist unaussprechliche Freude und Wonne immer und ewig. Diesen göttlichen Spiegel setze ich hierhin in der Gestalt eines menschlichen Bildes;
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• Lernte er nicht auch auf dieser Hochschule des Heiligen Geistes das Bild jenes Rades kennen, das er in seiner Zelle [in seinem Gebetsraum] abbilden [abmalen] liess, in dem der klarste Spiegel der ganzen Gottheit erstrahlt?
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11) ... obwohl ich es nicht recht gründlich verstehe ...
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• Weitere Deutungen überlasse ich jenen, die es besser verstehen.
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12) ... stelle ich es so dar, weil der Herr gesprochen hat: Wir wollen einen Menschen schaffen nach unserem Bild und nach unserer Gestalt (Gen 1,26); ich stelle es so dar, obwohl man es auch auf eine andere Weise versuchen könnte. Aber ich muss mir ja sagen, dass Gott vom Himmel herabgestiegen ist und menschliche Gestalt angenommen hat.
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13) Aus diesem göttlichen Antlitz [Spiegel] gehen drei Symbole aus; dies sind die drei ersten Speichen in diesem Rad. Eine Spitze einer solchen Speiche geht vom Ohr aus. Dies sollen wir so verstehen, dass Gott alles weiss, sowohl das Vergangene wie das Zukünftige, und er wusste, wie er alle Dinge erschaffen wollte, in welcher Weise, Form und Gestalt, jede Kreatur in ihrer Eigenart und jedes Geschöpf zur Vermehrung durch seinen Samen (Gen 1,11–12). Darum ist er ein Schöpfer aller Dinge und ein Vater von allem, denn er hat alles gemacht. Wohl deshalb wird er Vater genannt, die erste Person. Denn er ist ewig, vorher und nachher, in seiner Erhabenheit, und in seinem Ratschluss sind die Dinge im voraus geboren und gemacht worden. Nun sollen wir uns auch die zweite Speiche in diesem Rad merken, die mit einer kleinen Spitze hinzeigt in das klare Angesicht Gottes. Die Art, wie die Speiche in diesem Gleichnis ausgeht aus dem göttlichen Auge, sollen wir uns in solcher Liebe zu Herzen nehmen, dass er der Gott ist, der alle Dinge sieht und dem nichts verborgen ist. Sein göttlicher Spiegel weiss und sieht alles. Darum sah er unser grosses Elend, das wir durch das Verzehren des Apfels hatten, und dass wir dadurch seiner göttlichen Herrlichkeit sollten beraubt werden. Da dachte er an Abraham und erprobte ihn, ob er gehorsam sei. Es zeigte sich, dass er den Herrn liebte und gemäss der Anordnung, die Gott ihm gab, bereitwillig seinen einzigen Sohn opfern wollte (Gen 22,2–16). Als Gott diesen Gehorsam sah und diesen im Rate der Dreifaltigkeit gegen den Ungehorsam Evas und Adams abwägte, da gewann die Barmherzigkeit die Oberhand, und es wurde erkannt, dass Gott seinen eingeborenen Sohn senden und dass dieser menschliches Fleisch annehmen sollte, damit er den Sündenfall wiedergutmache. So ist die zweite Person ausgegangen, das ist der Sohn Gottes, der mit Gott vereint ist in ewiger Wesenheit, ungeteilt, immer und ewig. Nun seht und betrachtet die dritte Speiche, die mit einer kleinen Spitze in den göttlichen Spiegel des klaren Angesichts Gottes hineingeht, in solcher Weise, als ob sie aus dem göttlichen Mund herauskommt! Zu verstehen ist dies: Er [Gott] ist der Brunnen, woraus alle Weisheit fliesst, die demjenigen mitgeteilt wird, der ihrer aus echter Liebe begehrt. Das ist die süsse Einfliessung des Heiligen Geistes, wodurch es uns ermöglicht wird, seine reine Gottheit ewig anzuschauen.
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• Drei aussen breit beginnende Strahlen heften dort von der Seite her ihre Spitzen in das göttliche Antlitz [hier wörtlich: «divinitatis faciei»] im innersten Kreis, von dem die drei stärkeren Wirkungen dieser Dreiheit entspringen: die Schöpfung, die Passion und die göttliche Verkündigung - aus dem Ohr, dem Auge und dem Mund des leuchtenden Gotteshauptes ...
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14) Es sind drei Personen, die von der einen Gottheit ausgegangen sind und mit ihrer grossen Kraft und Weite Himmel und Erde umfassen; sie sind einig in ewiger Macht, immer und ewig.
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Wie eingangs der Studie erwähnt, ist Heinrich Gundelfingen der Verfasser der «Historia Nicolai Underwaldensis heremite», diese ist im Vorwort datiert mit Waldkirch 13. August 1488; dediziert ist die Schrift der Stadt Luzern.
H. Gundelfingen ist sehr wahrscheinlich in Konstanz geboren. 1458 immatrikulierte er sich an der Universität Heidelberg und am 8. Oktober 1460 an der Universität Freiburg im Breisgau, die erst in jenem Jahr als habsburgische Stiftung eröffnet wurde. Am 29. Dezember 1465 wurde der Baccalaureatus Joh. H. G. nach einem amtlichen Protokoll vom Magisterium zurückgewiesen, «praecipue propter deformitatem morum» (wegen sittlichem Missverhalten). Dass er später an der dortigen Artistenfakultät dennoch den Magistergrad (mag. artium) erwarb, ist ziemlich sicher, dies dürfte jedenfalls die Voraussetzung gewesen sein für seine im Jahre 1471 und 1476 erfolgte Anstellung an derselben Fakultät als Lehrer der Dicht- und Redekunst (Poetik und Rhetorik), verschiedene Male war er auch Dekan. Versuche, an die theologische Fakultät überzuwechseln und da einen Grad zu erwerben, schlugen stets fehl. Im Jahre 1488 zog er sich von der Universität zurück und lebte fortan in Waldkirch (Schwarzwald) bis zu seinem Tod 1491. Während seiner Tätigkeit in Freiburg übernahm er einige Pfründen, ohne aber selber dort zu residieren, ausser in Freiburg, wo er als Kaplan eingetragen war. Sehr wahrscheinlich hatte er unter anderem auch die Pfarrpfründe von Sarnen inne, die seit 1480 dem Patronat der Stadt Luzern unterstand. Weitere biographische Notizen sollen in der nachfolgenden Aufstellung Erwähnung finden, wo es darum geht, Heinrich Gundelfingen auch die Autorschaft des Pilgertraktats nachzuweisen.
Ist H. Gundelfingen nun nicht nur der Autor der «Historia Nicolai» und des «Offiziums de fratro Nicolao», sondern auch des in Augsburg gedruckten Pilgertraktats mit dem Titel «Brůder Claus»? Die folgenden 14 Indizien stützen diese Vermutung 1.
1) Am 16. Oktober 1480 unterbricht Gundelfingen die Lehrtätigkeit bis zum 13. Januar 1481, er verlässt Freiburg. Der Grund hierfür war eine dort ausgebrochene Pestepidemie. Mit ziemlicher Sicherheit benutzte er nun diesen Urlaub zu einer Schweizerreise, bei deren Gelegenheit er zudem auch den Ranft aufsuchte und dort Bruder Klaus persönlich begegnete. Nehmen wir an, Teile aus der fünften Frage des Traktats, welche u.a. die Pest zum Thema haben, seien echt, so ist der Aktualitätsbezug gegeben. Wenn Gundelfingen und Bruder Klaus sich über den Grund seines Urlaubs von Freiburg unterhielten, Gundelfingen dabei das Stichwort «Pest» nannte, so konnte nun der Einsiedler genau so fortfahren, wie es am Anfang dieser fünften Frage heisst: «Ist es möglich, wenn eine Plage in die Welt gesandt wird, die man Pestilenz nennt, dass dann ein Mensch diesem Zorn entrinnen kann?» Der Pilger hielt dies offenbar für möglich, und zwar durch Arznei oder durch Luftveränderung (d.h. Wegzug aus dem Seuchengebiet), «dies könne aber nur durch den Willen Gottes geschehen». Dass zudem die Innerschweiz für den Traktatschreiber Ausland war, zeigt der erste Satz: «Da ich was inn meiner ellendung (elend = Ausland) ...»
2) Zu Beginn des Traktats heisst es also: «Da ich was inn meiner ellendung und besůchet die stett der genaden und des ablas, da kam ich und fand ein menschen, des namens was brůder Claus (Als ich mich einmal im Ausland aufhielt und Orte der Gnade und des Ablasses aufsuchte...)» – In seiner «Historia Nicolai» zählt nun Gundelfingen sechs Wallfahrtsstätte auf: Einsiedeln, Büren (Kt. Bern), Ettiswil, Willisau, St. Wolfgang bei Zug und St. Beat bei Thun. Ziemlich sicher hat er selber den einen oder anderen Ort besucht, besonders Einsiedeln, wo sein Studienfreund Albrecht von Bonstetten Dekan war.
3) Am Ende des ersten Teils unseres Traktats nimmt der Besucher Abschied und bittet Bruder Klaus, er solle für ihn beten und auch für jene, die zu diesem Besuch geraten hatten. Damit könnten seine Studienfreunde Geiler von Keisersberg und Albrecht von Bonstetten gemeint sein, die ja beide ebenfalls 1472, bzw. 1478 im Ranft waren und die Gundelfingen nun auch einen derartigen Besuch bei Bruder Klaus empfahlen.
4) Bei der obigen Textgegenüberstellung des PT (Pilgertraktat) und der HN (Historia Nicolai), so wie bei der anschliessenden Auswertung konnte eine extreme Nähe der beiden Schriften zueinander festgestellt werden, was die Beschreibung des «Rades» betrifft, so dass sich eine Abhängigkeit in einer der beiden Richtungen nicht mehr von der Hand weisen lässt. Robert Durrer (Quellenwerk über Bruder Klaus, 384 und 1072, Anm. 26) plädiert dafür, dass Gundelfingen aus dem Traktat entnommen habe. Der obige Textvergleich lässt jedoch die umgekehrte Richtung als eher wahrscheinlich erscheinen. Gibt es aber noch eine dritte Möglichkeit? Die Textnähe lässt auch dies zu, nämlich, dass beide Male der gleiche Urheber dahintersteht, also Gundelfingen. Ferdinand Rüegg (Historiker) sagt zudem gerade etwas Gegenteiliges zu R. Durrers Äusserung: Gundelfingens Beschreibungen sind selbständig, er entnimmt nicht fremden Texten, was Bruder Klaus und sein «Kreisbild» betrifft, sondern er gibt aus eigener Erinnerung wieder, also als Augenzeuge. Warum hätte er auch aus einem anonymen Traktat abschreiben sollen, wenn er ja das bewusste Gemälde ohne Zweifel selber sehen konnte? – Damit aber der Traktatschreiber von der Historia Nicolai hätte abschreiben können, hätte diese zuerst einmal vorliegen müssen. Eine vierte Möglichkeit, nämlich dass beide Schriften einen gemeinsamen Vorläufer haben, kann ausgeschlossen werden, hierfür gibt es ja ohnehin nicht die geringste Spur. Also bleibt am wahrscheinlichsten: Heinrich Gundelfingen schrieb auch den Pilgertraktat oder war zumindest dessen Urheber (im Kontext der medialen Veränderungen im ausgehenden Mittelalter durch den Buchdruck), eventuell unter Beteiligung eines oder mehrerer seiner ehemaligen Studenten an der Univeristät Freiburg im Breisgau. In welchem Verhältnis standen übrigens die beiden Drucker zu Gundelfingen: Peter Berger in Augsburg und Marx (Markus) Ayrer in Nürnberg? Es ist überhaupt nicht abwegig anzunehmen, dass beide Drucker unlängst noch Studenten in Freiburg waren, einander gut kannten, dem Professor Gundelfingen bei der Anfertigung der aufwendigen Handschrift zuschauen, vielleicht sogar behilflich sein konnten und dabei über allerlei ins Gespräch gekommen waren. – Die drei hervorstechendsten Gemeinsamkeiten seien hier nochmals erwähnt:
a) Wenn es darum geht, Ausführliches über das Thema der Gottebenbildlichkeit im Zusammenhang mit dem Gemälde wiederzugeben, weichen beide Texte aus.
b) Beide haben die gleichen drei Bezeichnungen für das Meditationsbild: buoch, rad, spiegel, resp. liber, rota, speculum; wobei beide die Bezeichnung «Buch» als einen, von ihnen aus gesehen, Fremdbegriff einführen, derart, dass er wahrscheinlich von Bruder Klaus selbst stammen dürfte, von ihm ironisch so ausgesprochen wurde, da er ja nicht lesen konnte. – Wer kam denn überhaupt auf die originelle Idee, das farbige Meditationsbild von Bruder Klaus habe etwas mit einem Rad gemein? Das Wort hier gleichnishaft zu gebrauchen ist keinesfalls so selbstverständlich.
c) Die Ausdeutung der dritten Speiche, die aussen spitz ist, ist bei beiden gleich. Beide gehen am entsprechenden Medaillon von der Gefangennahme Jesu völlig vorbei und reden stattdessen vom kurzen Leben, das durch das Verharren in der Gottesliebe übergehen wird in ein unvergängliches Leben ewiger Freude.
5) Ein gewichtiges Indiz zur Stützung der erwähnten Vermutung liefert sodann auch die Behandlung der Datierungsfrage. Beide Schriften liegen einander auch hier sehr nahe. – Die HN ist in ihrem Vorwort datiert mit 13. August 1488. Die Vorbereitungszeit dürfte aber weiter zurückreichen, wahrscheinlich bis auf 1481, also bis zur Rückkehr von der Schweizerreise. Zudem wurden Widmung und Datierung erst nachträglich hinzugefügt, wodurch zweifellos eine zeitliche Verschiebung zwischen Text und Vorwort offenkundig wird. Gundelfingen zögerte zudem lange, ob er die Historia dem Stand Unterwalden oder der Stadt Luzern widmen solle, er entschied sich dann schliesslich für Luzern. Gleichzeitig war er übrigens auch mit der Ausarbeitung des Offiziums beschäftigt, die er dann zusammen mit der Historia der Stadt Luzern dedizierte. Beides zusammen stellt eine immense Arbeit dar, die wohl längere Zeit in Anspruch nahm. – Die erste Ausgabe des PT ist undatiert, der Druck konnte aber nicht vor 1486 erfolgt sein, da der Drucker Peter Berger nachweislich erst ab 1486 in Augsburg arbeitete. Eine vorausgehende Handschrift existiert sehr wahrscheinlich nicht, jedenfalls nicht in gebundener Form; bisher konnte auch keine gefunden werden. «Um 1488» ist vertretbar, da mit Datierung 1488 bereits die zweite Ausgabe in Nürnberg erscheint erscheint. – Alle drei Texte, die Handschrift Gundelfingens und die beiden Versionen des gedruckten Traktats rücken einander zeitlich so nahe, dass kaum einer von ihnen für den je andern als Quelle in Frage kam, es sei denn, alle hätten den gleichen Verfasser gehabt oder zumindest eine einzige mündliche Quelle, höchstwahrschinlich eben in der Person von Professor Gundelfingen.
6) Der theologische Gehalt des Traktats ist eher bescheiden, was darauf hinweist, dass der Traktatschreiber kein graduierter Theologe war. Das gleiche trifft auch auf Gundelfingen zu.
7) Der Traktatschreiber weist sich durch die Radskizze aus mit Kenntnissen in Mathematik. In Freiburg mussten alle ordentlichen Lehrer der Artistenfakultät, und dies war Gundelfingen seit Dezember 1476, gemäss einem Senatsprotokoll im Fach Mathematik Vorlesungen, bzw. Übungen abhalten.
8) Gundelfingen war also Lehrer an der «facultas artium» (Fakultät der Freien Künste) in den Fächern Poetik und Rhetorik. Die Art, wie der Traktatautor literarische Quellen und Vorbilder vereinnahmt und nachahmt, zeigt auch auf eine solche Fachkraft hin, auf einen Literaturprofessor. Ferdinand Rüegg äussert die Vermutung, Gundelfingen hätte Details aus Lebensbeschreibungen anderer Heiliger mit dem gleichen Namen entlehnt und in seine Historia Nicolai eingeflochten. Im Pilgertraktat ist etwas Ähnliches wahrscheinlich auch der Fall, Worte des Gelehrten Nikolaus von Kues werden dem Einsiedler Niklaus von Flüe in den Mund gelegt. – Auch der Umgang mit Caesarius von Heisterbachs Legendensammlung ist bei Gundelfingen eigenartig, so erwähnt er in der HN zweimal den «dialogus Caesarii» und bringt unter diesem Namen zwei Legenden, die man jedoch in der Sammlung vergebens sucht. Im PT finden wir ebenfalls eine Legende (von der Klausnerin in Rom), die man auf den ersten Blick bei Caesarius vermuten könnte, auch diese würde man dort vergebens suchen. Offenbar verfolgt der Autor der beiden Schriften die Absicht, die Legenden des Caesarius etwas nachzuahmen. Auch hieraus kann hervorgehen, dass wir es beidemale mit dem gleichen Verfasser zu tun haben.
9) Der Autor des PT kannte sich gut aus im Fach Logik, so entdeckt er in der zweiten Frage zur Verteidigung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Mariens ein komplexes logisches Schema. Die Logik, bzw. Dialektik, gehört bei einem Rhetorikprofessor zum täglichen Werkzeug. An der Freiburger Universität, an der Artistenfakultät, war Logik ein Pflichtfach, behandelt wurden u.a. die sechs logischen Schriften des Aristoteles, auch bekannt unter dem Sammelnamen «organon». – Die Argumentierung bezüglich der Erbsündenfreiheit Mariens beinhaltet ein dreifaches logisches Schema, dieses besteht wiederum aus einem Syllogismus, einer Implikation und der aristotelisch-porphyrischen Differenzierung: «… Maria war im Spiegel der göttlichen Allmacht vorgesehen worden, ehe Himmel und Erde waren. Das heilige Evangelium bezeugt uns, dass sie der Engel grüsste und zu ihr sprach: ‹Du bist gesegnet über alle Frauen.› (Lk 1,28 Vulgata) Unsere Mutter Eva ist von Gott ohne Erbsünde erschaffen worden, und wenn nun die Jungfrau Maria in der Erbsünde empfangen worden wäre, dann wäre sie nicht über alle Frauen gesegnet und so auch nicht über Eva, was ich eben vorangestellt habe.»
10) Im ganzen Schulbetrieb der Universität Freiburg waren zwei Richtungen vertreten, die Thomisten (Anhänger des Dominikaners Thomas von Aquin) und die Skotisten (Anhänger des Franziskaner Gelehrten Duns Scotus), letztere bildeten eine Minderheit, die von der andern Seite heftig bekämpft wurde. Heinrich Gundelfingen hatte also Gelegenheit beide Richtungen kennenzulernen. Doch er sympathisierte mehr mit der Minderheit und trat für deren Anliegen ein. Das passt auch gut zu unserem Traktatschreiber, der in Bezug auf Theologie und Spiritualität eine klare Neigung zum Skotismus (Theologie der Franziskaner) verrät. Und auch hier wird sodann deutlich, dass er mit der Gegenseite in nächster Nähe konfrontiert war, dies vor allem im Vermittlungsversuch, die Gegner der Unbefleckten Empfängnis Mariens (Dominikaner) mittels der aristotelischen Logik zu überzeugen (oben, Indiz 10).
11) Im PT wird zum Thema «Kirche» kein Wort geäussert, der Autor scheint dieser Institution wenig Beachtung zu schenken. Was aber tut Gundelfingen in seiner Historia? Er betreibt hier eine vehemente Kirchenkritik; zur Zeit der Urkirche in Ägypten, so schreibt er, die ein blühendes religiöses Leben zuliess, seien die Menschen noch nicht so sehr eingeengt worden durch so viele Vorschriften, Zensuren und Fallstricke; es könne für die Vorsteher jenes Bibelwort zutreffen: Ihr legt den andern unerträgliche Lasten auf, etc. – Beide Schriften enthalten also eine Art Antiinstitutionalismus betreffend der Kirche. Auch diese Gemeinsamkeit ist ein Indiz zur Stützung der eingangs gemachten Vermutung, es könne sich nur beidemale um den gleichen Autor, bzw. Urheber, handeln.
12) Gundelfingen nennt sich ausserdem auch «magister philosophiae». Er scheint auch eine besondere Vorliebe für die Stoiker gehabt zu haben, die er übrigens in der HN erwähnt, insbesondere in Bezug auf ihre Tugendlehre, welche Bruder Klaus in der Tat verwirklicht hätte. Im Anschluss an die eben erwähnte Kirchenkritik stützt er sich in Bezug auf das beschauliche Leben auf die Urteile und Aussprüche der Philosophen, was thematisch wohl ebenfalls auf die Stoiker gemünzt ist, etwa auf Seneca, den er übrigens namentlich erwähnt in seiner Schrift «Austriae principum chronici epitome triplex» (Dreibändige Chronik über die Herzöge von Österreich) welche er seinem Gönner Erzherzog Sigismund zueignete. – Was hat dies aber mit unserm Traktat zu tun? Gerade zum letztgenannten Stoiker, Seneca, besteht hier eine gewisse Themenverwandtschaft:
a) Der Pilger schreibt von der Vorsehung Gottes und vom Unterwerfen des Menschen unter dessen Urteilsspruch. Ähnliches finden wir auch bei Seneca, insbesondere in seiner Schrift «De providentia», wo er übrigens von einem Gott spricht und ihn «Vater» (parens) nennt,
b) Im PT wird die Verteilungsgerechtigkeit ganz einfach dargestellt, alles gehört allen, die materiellen Güter und auch die Wahrheit, also geistige Güter, der Mensch ist nur deren Verwalter. Auch Seneca vertritt diese Theorie.
c) Angesichts des Notleidens in der Welt, soll der Philosoph seine Zeit nicht vertun mit Gedankenspielereien, und auch guter Rat allein genügt nicht, er selber wird zur Hilfe aufgerufen gegenüber den Schiffbrüchigen, Gefangenen, Bedürftigen und Todgeweihten, den irrenden Seelen soll das Licht der Wahrheit gezeigt werden; keiner kann wahrhaft glücklich leben, wenn er alles nur zu seinem eigenen Nutzen anwendet, er muss auch für die andern leben, damit er überhaupt wirklich lebt. – Der Grundtenor über das Ausüben der Werke der Barmherzigkeit im PT geht diesen Gedanken Senecas sehr in die Nähe. In Bezug auf die Stoiker, insbesondere auf Seneca, befinden sich der Traktatschreiber und Gundelfingen in etwa der gleichen Gedankenwelt, beide sind vertraut mit der entsprechenden Lektüre.
13) Dass der Traktatschreiber so ausdrücklich das «Buch der Natur» des Konrad von Megenberg erwähnt, kann auch ein Zeichen dafür sein, dass die Naturwissenschaft bei unserm Autor sehr beliebt war. Bei Gundelfingen trifft dies ebenfalls zu, was sein Spätwerk dokumentiert, das u.a. die Heilquellen Badens beschreibt; Conrad Gessner griff später darauf zurück und betitelte es mit «De thermis Badensibus».
14) Nun bleibt noch die Frage: Warum blieb Gundelfingen als Autor des Pilgertraktats anonym im Hintergrund? Gehörte er vielleicht auch zur Bewegung der Gottesfreunde? In seinen jüngeren Jahren wohl kaum, wenn wir seine ungebundene Lebensweise und seine Verurteilung «propter deformitatem morum» (Sittenverfall) betrachten. Später erscheint dies jedoch als wahrscheinlich, er hat dann offensichtlich eine Wandlung durchgemacht – dennoch ist anzumerken, dass es sich hier nur um eine lose Bewegung und nicht um einen organisierten Verband handelte. Seine Kritik an der Amtskirche steht dem nicht im Wege, die Gottesfreunde sahen sich meist in einer ähnlichen Situation und emigrierten immer mehr aus der sichtbaren, iuridischen Kirche in die Verinnerlichung eines freien religiösen Lebens. Bestimmt kannte Gundelfingen ohnehin die eine oder andere Schrift dieser Bewegung und war dann wohl auch etwas vertraut mit dem Phänomen der anonymen, bzw. pseudonymen Verfasserschaft. Für ein heimliches Dazugehören zu den Gottesfreunden kann auch sein abrupter Wegzug aus dem Universitätsleben in die Abgeschiedenheit Waldkirchs ein Zeichen setzen. Diese plötzliche Weltflucht muss nun keineswegs unerklärlich sein, die Anregung hierfür konnte er einige Jahre früher bei seinem Besuch des Einsiedlers Niklaus empfangen haben. Der Traktat und darin besonders der erste Teil, das Gespräch mit Bruder Klaus, könnte hier für ein gutes Dokument sein – vor allem die erste Frage, in welcher eindrücklich von der Gottesliebe gesprochen wird, derart, dass Bruder Klaus dem Besucher einen «würdigen Namen» verleiht, den dieser dann aber mit einem Hinweis auf seine Sündhaftigkeit zurückweist.
Einen Einwand könnte es allerdings geben: Von Gundelfingen namentlich bekannt sind nur lateinische Texte. Wie käme er nun dazu einen Text in einfachem Deutsch zu schreiben? Die Drucker im 15. Jahrhundert konnten nicht bloss lesen und schreiben, sie konnten auch Latein. Ein Drucker war damals mehr als nur das, er war zugleich auch Lektor und Verleger. Wenn sich ein Drucker für einen lateinischen Text interessierte, um ihn zu drucken, war es für ihn nicht schwer, ihn im Rahmen seiner Möglichkeiten frei (eigenwillig, in eigener Verantwortung) zu übersetzen 2. Lateinisch zu drucken, lag nun in Deutschland nicht mehr im Trend. Hätte nun Gundelfingen über seinen Besuch 1480/81 im Ranft einen schriftlichen Reisebericht verfasst – von einem Professor der Freien Künste ist Solches anzunehmen – dann aber wohl gewohnheitsgemäss in Latein (wie Bonstetten). Peter Berger, der Drucker in Augsburg, hätte von der handschriftlichen Fassung eine deutsche Fassung nach seinem sprachlichen Gutdünken editieren können, ebenso Markus Ayrer in Nürnberg. – Der Einwand, den wir bei Rupert Amschwand und Heinrich Stirnimann (Doktoratskolloquium am 23. Juni 1981) finden, ist also entkräftet.
Auf Grund des 14-Punkte-Index [inzwischen sind es sogar 15] wird jetzt vieles klar, mit ziemlich grosser Sicherheit kann nun gesagt werden:
Heinrich Gundelfingen ist der Autor des Pilgertraktats – Autor im Verständnis der damaligen Zeit, nicht als wortwörtlicher Urheber sondern als dahinterstehende Autorität, als Quelle der massgeblichen Ideen eines Projekts.
Allerdings sind hier noch lange nicht alle Rätsel gelöst. Wie stark hatte der Drucker nicht nur Textstellen frei übersetzt sondern auch noch Eigenes hinzugefügt, so dass der Anteil des ursprünglichen Autors nicht mehr so klar ersichtlich ist? Unstimmigkeiten finden wir besonders, wenn es um die bildliche Darstellung und die sprachliche Erklärung geht, fokussiert etwa auf den Mittelpunkt. Wir müssen davon ausgehen, dass es bei der sprachlichen und grafischen Darstellung des «Rades» im Pilgertrakt mehrere Schichten gibt, in die mehrere Personen involviert waren. – Wenn wir die Zirkelnadel einstechen, entsteht unweigerlich in der Mitte ein sichtbarer Punkt. Ob dieser dann wirklich beim Autor eine Bedeutung hatte, ist höchst fraglich – eher keine. Diese Diskrepanz wird nirgendwo sonst so ersichtlich wie in dem Satz: «Die drei spiczen, dye do geent in den punkt des inwendigen czirckels, das seind …» Nun, in der Skizze berühren diese drei Spitzen lediglich den Umfang des inneren Kreises und keineswegs den Mittelpunkt. Offensichtlich wurde bei der späteren Interpretation dieser Mittelpunkt viel zu wichtig genommen (mehr darüber weiter unten). – Im Holzschnitt der Radskizze in der Nürnberger Ausgabe von Peter Ayrer (1488) wird der Mittelpunkt weggelassen. – Beim illustrierten Holzschnitt der Augsburger Ausgabe gehen diese Spitzen jedenfalls nur bis zum Ohr (Hören), zum Auge (Sehen) und zum Mund (Sprechen) des gekrönten Hauptes im innersten Kreis, genauso wie im gemalten Original, wo verständlicherweise kein Mittelpunkt zu sehen ist. Im zweiten Teil des Traktats ist dann nicht mehr vom Mittelpunkt die Rede sondern vom «göttlichen Spiegel» in Gestalt eines menschlichen Gesichts, bei Gundelfingen heisst es wörtlich: «in divinitatis speculo». – Der Mensch als Ebenbild Gottes? – Im Bologneser Original von Gundelfingens Handschrift ist in der Radskizze der Mittelpunkt jedenfalls nur als Einstich der Zirkelnadel zu sehen, er ist dort nicht gezeichnet. Der Autor, Gundelfingen, machte mit dem Zirkel Kreise, der Drucker und Endredaktor, Peter Berger zeichnet den Mittelpunkt ein und lässt einen Holzschnitt anfertigen. Es mutet beinahe an wie ein Witz: Der ursprüngliche Autor, eben Gundelfingen, konnte mit einem Zirkel Kreise zeichnen – nur möglich mit einem harten Bleistift, nicht mit Feder und Tinte, aber es gab damals noch keine exakt reproduzierende Lithografie; ein Kreis wurde von Hand, ohne Hilfsmittel, in das Holz eingeritzt. Sicher ist jedenfalls: Um aus dem farbigen, auf Tuch gemalten Bild ein geometrisches Konstrukt abzuleiten und mit Hilfe eines Zirkels zu zeichnen (Radskizze in Gundelfingens Handschrift), braucht es auch Kenntnisse in der Geometrie, die der Autor zweifellos hatte. Die Zeichnung in Gundelfingens Handschrift ist ein recht aufschlussreiches Artefakt, obwohl er im Text übrigens ausdrücklich das gemalte Bild erwähnt und keine Skizze (oben, Ziffer 10). Seine Skizze, kommentarlos eingefügt, gleichsam wie ein erratischer Block, sollte den Versuch ergänzen, eine Struktur, ein Konzept des gemalten Bildes zu ergründen. Die Radskizze in Peter Bergers Inkunabel (Augsburger Ausgabe) ist hingegen zweifellos die Folge eines Missverständnisses.
Ein Nadelstich mit Folgen …
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Oben links: Holzschnitt Version A im gedruckten Pilgertraktat, Augsburg, um 1488
Oben rechts: Holzschnitt B in der Nürnberger-Ausgabe, 1488 (ohne Mittelpunkt)
Rechts: Computer-Rekonstruktion der Zeichnung in der Handschrift Gundelfingens, vor 1488 (frühstens 1481) angefertigt mit Zirkel und hartem Bleistift (im 15. Jahrhundert gebräuchliche Blei-Silberlegierung); der Mittelpunkt ist bloss ein Nadelstich (Krater). Dieser ist ein wichtiges Kriterium dafür, was zuerst da war. |
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Warum diese Unterschiede in den beiden oben abbgebildeten Holzschnitten? Beiden diente je eine Bleistiftzeichnung als Vorlage, die nur Gundelfingen anfertigen konnte – vermutlich sogar auf einem separaten Blatt in der Grösse entsprechend dem Quadrat (Andeutung für das «Buch») in der Augsburger Version. Der Herausgeber meinte dann offensichtlich, es müssten Blattrand (Buchcharakter) und Kreismittelpunkt ebenfalls dargestellt werden; die Proportionen der Kreise sind beinahe so wie bei der Zeichnung in Gundelfingens Handschrift. Die Nürnberger Variante ist der Zeichnung Gundelfingens in Bezug auf die jeweilige Speichenbreite ähnlicher und zeigt so eine auffällige Abhängigkeit. Allerdings ist sie seitenverkehrt, was aber normal ist, wenn man eine Vorlage für einen Holzschnitt verwendet – ein markantes Indiz. Die Zeichnung in Gungelfingens Handschrift ist somit älter. Ferner ist keineswegs sicher, ob die undatierte Augsburger Ausgabe – um 1488 – bereits 1487 gedruckt vorlag, 1488 ist eher wahrscheinlich; es ist keineswegs bewiesen, dass sie älter ist als die erste Nürnberger Ausgabe. In 2. Nürnberger Ausgabe, um 1489, gleicht die Radskizze strukturell der Version B (siehe Link unten).
In der Handschrift Gundelfingens ist nirgendwo die Rede von einem Mittelpunkt, wohl aber ein paar Mal im «Pilgertrakt», wo der Endredaktor (Herausgeber) sich völlig verunsichert zeigt, derart herumirrt, dass es auch in den sprachlichen Formulierungen niederschlägt. Hier nun 5 Stellen in der 4. Frage des 1. Teils originalsprachlich aufgelistet, wo immer die ein- und ausgehenden Speichen erklärt werden, durch den literarischen Bruder Klaus – d. h. ihm in den Mund gelegt; es ist nicht möglich, dass er dies wirklich so gesagt hatte:
1.) Jn dem mitteln punkten… 2.) … in den punckten des inwendigen czirkels
3) … in dem rad von dem inwendigen punckt des innern zirckels … 4.) … bei dem innern zirckel des mindren puncktz … (??) 5.) … bei dem innern zirckel …
In der Formel 4 ist die Genitivkonstruktion völlig verunglückt, der Genetiv ist mit dem Objekt verwechselt worden. Wenn wir 1 bis 4 reduzieren auf die Formel 5 – es gibt und gab nur den «inneren Kreis» –, dann können wir hier etwas näher an den Urtext herankommen, der dem ersten Drucker, Peter Berger, zur Verfügung stand. Es war ursprünglich nur vom «innern Kreis» die Rede. Bruder Klaus hatte sicher erklärende Worte zum inneren Kreis mit dem gekrönten Haupt von sich gegeben. Aber welche? Eher einfache Worte, keine theologischen Spekulationen, keine Rede vom Gottesantlitz (wie auch Gundelfingen). – Der Mittelpunkt wurde jedenfalls in einer späteren Schicht der Textevolution «erfunden» hinzugefügt. Die Konfusion kommt zweifellos von der missglückten Radskizze (Holzschnitt), wo der Mittelpunkt speziell eingezeichnet wurde, obwohl er in der mit Bleistift gezeichneten Vorlage nur als Nadeleinstich des Zirkels vorhanden war. Die Verunsicherung, die in den fünf Stellen sprachlich aufscheint, zeigt, dass der Urheber dieser Irrung kaum Kenntnisse in der Geometrie hatte, völlig im Gegensatz zum ersten Autor des Textes. Gundelfingen hatte Kenntnisse in der Geometrie. Er sprach auch nicht vom Gottesantlitz im Zentrum sondern vom «göttlichen Spiegel» (divinitatis speculum), vom Ebenbild Gottes; erst als er dann die radioli (Strahlen, Speichen) mit den drei göttlichen Personen in Beziehung bringt, setzt er eine langandauernde Verwirrung in Gang. Apropos Geometrie und Kunst: In der Skizze Gundelfingens finden wir sogar den berühmten Goldenen Schnitt, das proportionale Verhältnis zwischen dem äussersten Radius und dem Abstand zwischen den beiden Ringen entspricht genau diesem wohlgeformten Ideal (1:0,618, messbar mit einem Reduktionszirkel), wie es bereits von den alten Griechen in der Architektur angewandt wurde und seit der Renaissance – angeregt durch die Steinmetze – auch in anderen Kunstarten in Gebrauch ist. Der Goldene Schnitt vermag beim menschlichen Betrachter ein Gefühl des Wohlgefallens zu vermitteln. Annähernd gleiche Proprotionen finden wir nun auch teilweise beim farbigen Tuch, wo die Kreise jedoch etwas unregelmässig verlaufen.
Noch ein Argument: Holzschnitte wurden damals immer als Handarbeit angefertigt. Trotzdem, die Linien der Radskizzen konnten je zuerst mit Lineal und Zirkel auf das Holz gezeichnet und danach mit einem Werkzeug von Hand vertieft werden. Wie hätte Bruder Klaus ohne geometrische Hilfsmittel von Hand eine solche Skizze anfertigen können? Nicht möglich. Wer das nicht glaubt, versuche doch selbst einmal vier genau konzentrische Kreise freihändig zu zeichnen. Und eine Zeitmaschine gab es ja auch nicht, welche den Holzschnitt der Augsburger Ausgabe (um 1488 entstanden) mindestens neun Jahre hätte zurück beamen können. – Die beiden oben zitierten Texte beschreiben zweifellos das farbige Meditationstuch.
Welches «Radbild» war also zuerst da? Die Reihenfolge sieht so aus:
1.) Das farbige Meditationsbild (1465–1475, spätestens 1480) 3
2.) Eine genaue geometrische Zeichnung (mit Bleistift, Zirkel und Lineal), wie sie bei
Gundelfingen zu sehen ist (1481–1488)
3.) Holzschnitt A der Augsburger Ausgabe mit dem missverstandenen Mittelpunkt,
basierend auf der Bleistiftzeichnung (um 1488, ohne Datumsangabe)
Holzschnitt B der Nürnberger Ausgabe, ebenso basierend auf der
Bleistiftzeichnung, spiegelverkehrt in Bezug auf die Vorlage Gundelfingens
(Beweis, dass die Zeichnung in Gundelfingens Handschrift vorher existierte)
Theologiegeschichtlich ist noch dies festzuhalten: Im Gutachten zu meiner Dissertation, «Der göttliche Spiegel» (1981), schrieb mein Doktorvater, Josef Siegwart, Ordentlicher Professor für Kirchengeschichte an der Universität Freiburg Schweiz diesen Satz: «Aber eigentlich insinuiert der PT [Pilgertraktat] eine veraltete Trinitätslehre, nämlich das Ausgehen der drei Personen aus der ungeteilten Gottheit, was man seit dem Konzil von Florenz nicht mehr hätte lehren dürfen». In der Bulle «Cantate Domino» hält das Konzil 1442 (bzw. 1441 nach florentinischer Zeitrechnung) fest, dass die drei Personen nicht aus einem gemeinsamen Ursprung hervorgehen. Vielmehr ist in einer Hierarchie der Vater der Ursprung, der Sohn geht aus dem Vater hervor und ist Ursprung vom Ursprung, beide Personen sind sodann nicht zwei Ursprünge sondern zusammen der Ursprung für den Heiligen Geist (Denzinger 1331). Gegenteiliges anzunehmen oder sogar zu lehren wird entschieden verworfen und mit dem Anathem (Kirchenbann, Denziger 1332) belegt. Eigentlich war das damals nicht neu, denn bereits 325 hat das Konzil von Nicäa das Credo im gleichen Sinne festgelegt (Denzinger 125–126), durch die Jahrhunderte bis heute verbindlich. – Und weiter: Wenn Gott in der Welt eingreift, dann tun dies alle drei Personen zusammen und nicht eine allein. Denn der Vater ist ganz im Sohn, ganz im Heiligen Geist usw. Es gibt nicht drei Ursprünge in der Schöpfung sondern immer nur einen Ursprung von Gottes Wirken.
Beide geistlichen Berater des Einsiedlers Niklaus von Flüe, Oswald Issner (Pfarrer von Kerns) und Heimo Amgrund (Pfarrer von Kerns und später von Stans) mussten über diese Sachlage Bescheid gewusst haben. Sie hätten gewiss interveniert, wenn Bruder Klaus eine «verwerfliche» Lehre gedacht und geäussert hätte. Dies legt nahe, dass die entsprechenden Worte vom Ausgehen der drei göttlichen Personen aus der ungeteilten Gottheit nicht von Bruder Klaus stammen sondern ihm vom Autor des Traktats in den Mund gelegt wurden (Erklärung der Figur, welche das Aussehen hatte wie ein Rad, oben, Ziffern 2 und 3). Auf diesen Worten basiert aber die Radskizze. Der Pilgertrakt ist, wie schon Robert Durrer vermutete, eine literarische Fiktion. Und die seit 40 Jahren oft fälschlicherweise und mit manchem Unfug verbunden dem Einsiedler zugeschriebene Skizze hatte dieser überhaupt nicht sondern eben nur das farbige Tuch. Die Skizze ist die Erfindung von Heinrich Gundelfingen zum Zwecke des Versuchs ein Konzept zu ergründen, die Worte sind seine eigene Meinung. Gundelfingen steht stark unter dem Einfluss der neuplatonischen Ideen des Nikolaus von Kues. Die «Deutsche Mystik», mit der Bruder Klaus kaum etwas gemein hat, ist ebenfalls abhängig vom Neuplatonismus mit seinen historischen Wurzeln in Alexandria.
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1 Huber, Der göttliche Spiegel, Europ. Hochschulschriften, 23/164, Freiburg Schweiz, 181–190
2 Dieses Gegenargument verdankte ich 1981 Peter Jäggi, heute: Dr. P. Gregor Jäggi OSB,
Einsiedeln – Prof. Stirnimann hätte den Einwand auch selbst mit seinen eigenen Feststellungen
widerlegen können (Der Gottesgelehrte…, Freiburg Schweiz 1981, Dokimion 7, 155)
3 Gundelfingen erwähnt in der Handschrift HN jedenfalls das gemalte Bild und keine Skizze
(oben, Ziffer 10), obwohl er sie kommentarlos einfügte.
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